„Wer nicht an Wunder glaubt, ist kein Realist"
Der Erfolg gegen Mainz war der sechste Sieg in Serie für die Schwaben, am Neckar wird also weiter vom Double geträumt. Hoffnung macht auch, dass VfB-Trainer Armin Veh ab sofort wieder mit seinem besten Torjäger Mario Gomez planen kann.
In der Cannstatter Kurve des Gottlieb-Daimler-Stadions hing vor dem Spiel ein Riesentransparent mit der Aufschrift: „Wer nicht an Wunder glaubt, ist kein Realist.“ Mit dem 2:0 (1:0) gegen Mainz ist die Zahl der Realisten unter den Anhängern des VfB Stuttgart weiter gewachsen. Nach sechs Siegen in Folge ist der deutsche Meistertitel wieder ein Stückchen näher gerückt.
Bei nur einem Punkt Rückstand auf Schalke 04 könnte am Ende sogar das bessere Torverhältnis den Ausschlag geben. So wie 1984 und 1992, als die Schwaben die letzten beiden Male die Meisterschale in Händen hielten. Mögliche Parallelen machen Mut für den Endspurt, denn im Moment liegen Königsblau und Rot mit jeweils 22 mehr geschossenen als kassierten Toren gleichauf.
"Zauber-Veh"
In diesem Herzschlag-Finale macht der Trainer seinem vom Stadionblatt vergebenen Titel „Zauber-Veh“ alle Ehre. Für das vorletzte Spiel am kommenden Samstag in Bochum kann er seinen Torjäger aufbieten, mit dem nach Innenbandriss im Knie und Mittelhandbruch eigentlich niemand mehr gerechnet hatte. Nach neun Wochen Zwangspause soll Mario Gomez für den entscheidenden Torvorsprung sorgen, wenn die Kontrahenten am Ende tatsächlich punktgleich durchs Ziel gehen sollten. "Ich denke, in Bochum bin ich wieder dabei“, sagt der Jung-Nationalspieler voller Vorfreude. Im Training absolviert er schon seit Tagen das ganze Programm ohne Probleme. Mit seinen 13 Treffern ist er immer noch Stuttgarts bester Torschütze vor Cacau (zwölf). Er ist erstaunlich, wie der VfB das Fehlen von Gomez kompensiert hat. „Das ist für mich die größte Überraschung der vergangenen Wochen“, wundert sich Hermann Ohlicher, der Stuttgart 1984 mit seinem Tor zum 2:1 in Bremen zum Deutschen Meister machte. Gegen Mainz sprangen zunächst zwei Abwehrspieler in die Bresche: Matthieu Delpierre legte auf, Fernando Meira schoss an Freund und Feind vorbei das 1:0. Danach kassierte der Kapitän allerdings seine fünfte Gelbe Karte, die ihn in Bochum zum Pausieren zwingt.
Hilbert wird immer stärker
Beim 2:0 tat sich wieder einmal Roberto Hilbert hervor, der immer stärker wird. Nach einem Traumpass des früheren Mainzers Antonio da Silva umkurve der schnelle Ex-Fürther Torwart Christian Wetklo und markierte mit dem rechten Außenrist sein sechstes Saisontor. „Wenn man so eingesetzt wird, kann man nicht viel falsch machen“, sagte Hilbert.
Die VfB-Schlachtenbummler unter den 56.000 Zuschauern im ausverkauften Daimler-Stadion feierten ihre Mannschaft schon wie den Deutschen Meister mit La Ola und Sprechchören, in den letzten zwei Minuten sogar im Stehen. Zu diesem Zeitpunkt waren noch viele Fans der Meinung, Schalke hätte die Hürde Nürnberg nicht genommen. Während des Spiels war mehrfach die Blitztabelle auf der Videotafel eingeblendet worden, die den VfB bei einem 0:0 in der Veltins-Arena als neuen Spitzenreiter ausgewiesen hatte. Das Schalker Siegtor wurde verschwiegen. „Da ist die Technik ausgefallen“, sagte Manager Horst Heldt, gab dann aber zu: „Wir wollten die Euphorie nicht bremsen.“
Welt.de snipurl.com/1jkuv
Manipulation als meisterliche Methode
VON FRANK HELLMANN (STUTTGART)
Sogar die Manipulation wird zur Methode im Meisterschaftskampf: Es war Samstagnachmittag, so gegen 16.50 Uhr, als die Macher beim VfB Stuttgart zu den Kniffen griffen, die später als Mosaiksteinchen des Erfolges in die Annalen eingehen. Roberto Hilbert, jener wuselige Mittelfeldspieler, den die Schwaben erst zu Saisonbeginn vom Zweitligisten Greuther Fürth lockten, hatte gerade das entscheidende 2:0 gegen den FSV Mainz erzielt, als Manager Horst Heldt Sekunden später eine weniger freudige Botschaft vernahm: die Kunde von der Führung aus der Gelsenkirchener Arena, Luftlinie 500 Kilometer nordwestlich. Im Stuttgarter Stadion standen immer noch die mehr als 50 000 VfB-Fans auf ihren Plätzen, klatschten enthemmt und sangen mit Emphase meisterliche Lieder. Nur eines hätte diese verzückende Stimmung empfindlich gestört: die Kunde vom fast zeitgleichen Volltreffer des Ex-Stuttgarters Kevin Kuranyi.
Es spricht für die Auffassungsgabe Heldts, dass der 37-jährige Jungmanager die Stadionregie, die bis dahin jeden Zwischenstand von den anderen Schauplätzen in Sekundenschnelle mit Nennung jedes Torschützen eingeblendet hatte, sogleich anwies, das Ergebnis aus Gelsenkirchen zu verschweigen. "Unsere Technik hat in dem Moment versagt", erklärte Heldt später und schmunzelte. Und um doch einzuräumen: "Ich wollte die Euphorie nicht bremsen." So blieb das Gros der schwäbischen Beobachter als auch die Mehrheit der VfB-Spieler bis zum Abpfiff im Glauben, Liga-Primus zu sein. Eine Täuschung, die Heldt bewusst herbeigeführt hatte. "Hätten die Nürnberger ein Tor geschossen, dann hätte unsere Technik schnell wieder funktioniert."
Der Trick mit dem in jeder Hinsicht ausgeblendeten Schalker Siegtor mag eine Marginalie sein - und beschreibt doch vortrefflich, wie ernst es die Stuttgarter mit der Meisterschaft nehmen. "Wir haben gezeigt, dass wir mit dem Druck umgehen können", sagte der entspannte Trainer Armin Veh, der seine "charakterfeste Mannschaft" in den höchsten Tönen lobte. "Sie spielt diszipliniert und mit der nötigen Lockerheit, weil es zwischenmenschlich stimmt." In der Tat sind diesem von Heldt und Veh so erfolgreich binnen einen Jahres runderneuerten Ensemble jene teaminternen Disharmonien fremd, die etwa die Gelsenkirchener in der Hinrunde hemmten und die Bremer in der Rückrunde zurückwerfen. "Kommen Sie bei uns zum Training", empfahl Heldt, "und Sie werden sehen, dass man hart arbeiten und Spaß haben kann." Ungefähr 1000 VfB-Anhänger folgen der Aufforderung täglich - und das ist nur ein Indikator der überbordenden Begeisterung im Ländle.
Das Stadionmagazin zeigt ein Konterfei des Trainers und titelt "Zauber-Veh", auf dem Cannstatter Wasen finden Pokal-T-Shirts und Meisterschalen reißenden Absatz; 100 000 Fans werden hierher strömen, wenn sich das Team am 27. Mai nach dem Pokal-Endspiel präsentiert. "Die Mannschaft verdient, wo sie steht", sagt Heldt. "Sie hat einen Plan, sie ist ehrgeizig, sie lässt sich nicht aus der Ruhe bringen und sie weiß um ihre Stärken." Als da wären: eine abgeklärte wie effiziente Spielweise, bei der defensive Stabilität statt offensivem Zauber das Markenzeichen bildet. Und wenn beim Aufwärmen immer noch die verklärenden VfB-Bilder von Fredi Bobic, Giovane Elber und Krassimir Balakov über die Multimediatafeln flimmern, wäre es an der Zeit, das magische Dreieck des aktuellen Jahrgangs ins rechte Licht zu rücken: Pavel Pardo, Fernando Meira und Matthieu Delpierre - drei, die in einem zentralen Dreiecksdefensivverbund scheinbar ferngesteuert so perfekt funktionieren wie einst der Inbegriff für Stuttgarter Offensivkunst. Heldt findet das gesamte Team sei so gut aufeinander abgestimmt, dass nur noch punktuelle Verstärkungen für nächste Saison Sinn machen: Berlins Spielmacher Yildiray Bastürk soll bald einen Vier-Jahres-Vertrag unterschrieben, mit dem Mainzer Stürmer Mohamed Zidan wird demnächst verhandelt, der Rostocker Verteidiger Gledson ist schon gekauft.
"Wir schauen nur noch nach oben"
Das aktuelle Gebilde wird am Samstag beim VfL Bochum auf seine Stabilität getestet. "Bochum hat eine hervorragende Mannschaft. Niemand darf dieses Spiel unterschätzen", verspricht Heldt, der an "ein Herzschlagfinale" glaubt. Die Brust der Schwaben dafür wird breiter und breiter. "Wir schauen nur nach oben", sagte Meira ohne Anflug von irgendwelchen Selbstzweifeln, "wir dürfen weiter träumen." Vom Pokalsieg sowieso, von der Meisterschaft auch. Kapitän Meira fehlt wegen seiner fünften Gelben Karte in Bochum, trug aber gegen Mainz viel zur Beruhigung bei: Der Portugiese erzielte jenes ekstatisch bejubelte 1:0 (26.), zu dem später einfach kein Stimmungskiller gepasst hätte.
snipurl.com/1jl71